Mi. 17. Juni 2009, 14-16h: Axiom - Wissen auf Radio X: Die Dahingegangene Republik oder die Grenze in unseren Köpfen. Ein Beitrag von Stephan Kyrieleis.
Axiom: play: Stephan Kyrieleis und Gisela Kramm
Axiom: play: Stephan Kyrieleis und Gisela Kramm
Stippvisiten in der DDR, von Stephan Kyrieleis
April 1977 – Grenzübergangsstelle Herleshausen-Wartha. Mit meinen Eltern bin ich auf den Weg zu Verwandten, die in der Nähe von Leipzig -im Nordwesten von Sachsen wohnen. Ich bin zehn Jahre alt. Während wir in der Schlange vor der Grenze stehen überträgt sich die Unruhe meiner Eltern auch auf mich. Die Grenzer nehmen unsere Pässe, mustern misstrauisch unser Auto. Der Ersatz unserer abgebrochenen Radioantenne durch einen Drahtkleiderbügel erweckt ihr Argwohn. Als ihnen andere Reisenden bestätigen, dass die Improvisation in der Bundesrepublik durchaus üblich ist, beruhigen sie sich wieder. Irgendwann bekommen wir unsere Pässe, verziert mit zweifarbigen Stempeln und einer Gebührenmarke zurück und dürfen einfahren in die Deutsche Demokratische Republik.
Am ersten Tag in der DDR hatte ich immer ein beklommenes Gefühl. Die zweispurige Autobahn ohne Beschleunigungsspuren. Raststätten mit kleinen Mitropa-Häuschen und die Autos der Marken Sachsenring, Wartburg, Skoda und Dacia, die man in der Bundesrepublik kaum sah. Dazu die von einer braunen Schicht überzogenen Häuser, die roten Tafeln mit Propagandasprüchen und der Geruch der Braunkohle in der Luft. Nach einigen Tagen gewöhnte man sich dann daran. Es wurde selbstverständlich. Wenn man dann seiner Meldepflicht genüge getan hatte – im Hausbuch eingetragen war und die Aufenthaltsberechtigung und das Ausreisevisum vom Volkspolizei-Kreisamt in der Kreisstadt Eilenburg bekommen hatte, war man in der DDR angekommen. Dann merkte man, dass das Selterswasser oder die Limonade aus den kleinen Flaschen ebenso gut schmeckte wie im Westen und das Essen auch erträglich bis gut war. Nur die Zahnpasta sollte man nicht vergessen, da die Ost-Zahnpasta keine angenehme Frische im Mund hinterließ.
Bei unserer Ankunft erweckte eine Beule im Kotflügels unseres drei Jahre alten VW Passat Variant die Aufmerksamkeit unserer Gastgeber. So ein schönes Auto und dann so eine hässliche Beule. Gleich wurde handwerklich geschickten Bekannten Bescheid gegeben und bei unserer Rückfahrt war der Kotflügel ausgebeult und perfekt gespachtelt. Nur die marinogelbe Farbe, die es in dem Farbton in der DDR nicht gab - da es den Trabant nur in einem senfgelb gab- fehlte.
Meine Verwandten Regina und ihr Mann Otto hatten sich eine Nische in der DDR-Wirtschaft geschaffen. Sie besaßen eine private Nerzfarm. Neben dem Bungalow, wo sie wohnten, befanden sich Schuppen und Ställe. In alten Fässern wurden Hühnerköpfe als Nerzfutter gekocht. An einem Tag durfte ich zu einer Tour mit dem alten grauen Framo- Lieferwagen mitkommen. Mit Onkel Otto fuhr ich zur Molkerei, zur Abdeckerei und zuletzt zur Jugendherberge. In der Jugendherberge holten wir Behälter mit gekochten Spagetti ab – Speisereste für die Nerze. Vorne im Lieferwagen sitzen zu dürfen und wie ein Erwachsener beim Einladen zu helfen, war ein Erlebnis für mich. Die Tochter von Otto und Regina hatte im Kindergarten ein neues Lied gelernt: „Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee.“
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