Axiom, Mittwoch, 16 September 2009: 14-16 Uhr: Gespräch mit Bei Ling und Xue Liu: Diskussion des Symposiums: China und die Welt Wahrnehmung und Wirklichkeit, Vorträge von Jiang Feng (Botschafter Chinas in Deutschland) und Tilman Spengler (Autor)
Es ging hier doch um Literatur, oder?Von Bei Ling
FAZ, 18. September 2009 Das war das sowohl absurdeste als auch unvergesslichste Symposion, an dem ich je teilgenommen habe. Willkommen zurück im Kalten Krieg – ähnlich bizarr und unberechenbar ging es hier zu. Bis zuletzt, als ich in letzter Minute mein Flugzeug nach Frankfurt bestieg, hatte ich keine genaue Vorstellung davon, was mich dort erwarten würde. Ich war auf alles gefasst, auf Demütigungen, selbst darauf, möglicherweise gar nicht eingelassen zu werden. Ich konnte auch nicht damit rechnen, dass mich am Flughafen irgendjemand abholen würde, schon gar nicht ein offizieller Vertreter der Frankfurter Buchmesse.
Doch als ich aus den Medien erfahren hatte, dass die ebenfalls zunächst ausgeladene Dai Qing unter allen Umständen auf ihrer Teilnahme als „Zuhörerin“ bestehen und anreisen würde, gab es auch für mich kein Zurück mehr. Ich würde auf dem Symposion anwesend sein und gemeinsam mit ihr die Gelegenheit nutzen, mich aus dem Auditorium heraus zu Wort zu melden und meine Meinung zu sagen, meine unabhängige Stimme hören zu lassen.
Während der gesamten zwei Tage der Konferenz herrschte zwischen mir und der aus China angereisten Delegation aus Wissenschaftlern und Schriftstellern eine subtile Spannung, eine Kälte, die sich anfühlte, als seien oppositionelle Kräfte hier zum Kampf angetreten. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich hatte mir erhofft, in einen offenen, gleichberechtigten Dialog mit allen Teilnehmern aus China treten zu können. Ob das nun ein naives oder vermessenes Unterfangen war – bei dieser Art von Konferenz war dergleichen unmöglich. Abgesehen von dem dreiminütigen Statement, das Dai Qing und mir zur Eröffnung des Symposions eingeräumt wurde, waren wir von Anfang bis Ende nicht mehr als Zuhörer, die, höflich in die erste Reihe plaziert, gegebenenfalls die Hand heben konnten, um vom Moderator das Wort erteilt zu bekommen. Gleich als der ehemalige chinesische Botschafter in seinem Vortrag die an uns gerichtete Aussage machte: „Diese Dame und dieser Herr können sich nicht anmaßen für 1,3 Milliarden Chinesen zu sprechen!“, sagte mir sein überhebliches, bereits wutverzerrtes Gesicht, wohin die Reise ging.
Dabei hatte ich der Teilnahme an dieser Konferenz ursprünglich zugestimmt, um einem großen Schriftsteller, Paul Celan, meine Reverenz zu erweisen, dessen Werk ich in chinesischer Sprache verlege. Ja, ich wollte über Exilschriftsteller sprechen, denn es ging hier doch um Literatur, oder?
Beim letzten Panel des Symposions, als endlich die Rolle der Literatur auf der Tagesordnung stand, versuchte ich also als Verleger, auf Paul Celan zu sprechen zu kommen. Ich habe in meinem Verlag „Tendenzen“ eine chinesische Biographie mit ausgewählten Werken von Paul Celan herausgebracht, ein Band, der für mich persönlich zum wichtigsten Werk während der Zeit meines schriftstellerischen Exils in den vergangenen Jahren geworden ist. Was ich auf der Konferenz nur kurz ansprechen konnte und den Gästen aus meinem eigenen Heimatland klarmachen wollte, war, dass Celan sein Leben lang, als Dichter in einer schwierigen Zeit, keinen Moment lang aufgehört hat, das auch nach dem Krieg noch in seinem Vaterland – Deutschland – fortbestehende faschistische Denken bloßzustellen und zu kritisieren. Zu jeder Lesung, die er bei seinen Besuchen in Deutschland hielt, brachte er sein ganz persönliches Leid mit und spürte das kleinste Detail auf, mit dem dieses Land seine eigene finstere Geschichte zu kaschieren versuchte.
Nein sagen gehört zur chinesischen Literatur
Doch, was mich immer zutiefst berührt hat, ist, dass dieses Deutschland, das Land seiner Muttersprache (und der Sprache seiner Mutter, die von Deutschen getötet wurde), Celan empfangen hat. Und nicht nur empfangen hat, sondern ihn auch als einen der großen Dichter der eigenen Literatur geehrt hat. Nicht nur, dass er mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde; die Deutschen zollten ihm aufrichtigen Respekt. Und was mich noch tiefer beeindruckt ist, dass seine deutschen Schriftstellerkollegen ihn stets als ihresgleichen betrachtet und empfangen haben.
In China wird das, was nach offizieller Vorstellung als chinesische Literatur gilt, in die geographischen wie ideologischen Grenzen der Volksrepublik gezwängt. Jede chinesischsprachige Literatur, die sich außerhalb dieser Grenzen bewegt, wird ignoriert, der in Frankreich lebende Nobelpreisträger Gao Xingjian wird gar als „französischer Schriftsteller“ bezeichnet. Nestbeschmutzer wirft man eben aus dem Nest. Dabei haben gerade diese in der chinesischen Literatur Tradition: Kaum ein klassischer chinesischer Dichter, von Qu Yuan bis Du Fu, der nicht vom einem Landesherrn verstoßen worden wäre. Die heute im Exil lebenden Schriftsteller zu ignorieren heißt, einen wichtigen Teil der zeitgenössischen chinesischen Literatur zu verleugnen.
Nein sagen zu können gehört zu den wichtigsten Traditionen chinesischer Schriftsteller. Aber das gehörte zu den vielen Dingen, über in diesem Symposion zu kulturellen Fragen nicht gesprochen wurde.
China braucht Nachhilfe in Literatur
Ich versuchte, den Diskurs zu provozieren. Ich sagte den anwesenden Kollegen, dass der Tag kommen würde, an dem China die heutigen Exilschriftsteller anerkennen und ihre Werke zulassen wird. Und ich sagte den anwesenden Intellektuellen und Gelehrten auch, dass es ihnen doch eigentlich anstünde, mehr Toleranz zu zeigen als die Regierung. Bei meiner Nachfrage unter den teilnehmenden chinesischen Wissenschaftlern und Schriftstellern stellte sich allerdings heraus, dass keiner von ihnen wusste, wer Paul Celan war. Deutsche Exilschriftsteller scheinen sich einer ähnlichen Missachtung durch offizielle chinesische Kulturzirkel zu erfreuen wie die chinesischen.
Zuvor hatte der ehemalige Botschafter Chinas erklärt, die Zeiten, in denen sich China in Sachen Demokratie belehren lassen müsste, seien vorbei. Ich dagegen würde sagen, dass ein solches Land nicht nur Nachhilfeunterricht in Demokratie, sondern auch in Literatur gut gebrauchen könnte. Man möchte einseitig andere belehren und lässt doch ein profundes Verständnis für die Literatur und die großen Schriftsteller des Landes, in dem man sich befindet, vermissen.
In meinen Augen hat dieses Symposion versagt, versagt deshalb, weil es zu keiner wirklichen Diskussion gekommen ist. Sämtlichen Vorträgen fehlte es an Entschiedenheit und Tiefe, was geboten wurde, bewegte sich in der Regel unterhalb des erwarteten fachlichen Niveaus, und wirkliche Diskussionen zwischen den zu Experten ernannten Personen auf dem Podium fanden nicht statt. Dass die Zeit dafür gar nicht gegeben wurde, war nur ein Faktor.
Die Diskussion wurde „aus Zeitgründen“ abgebrochen
Der einzige Erfolg bestand darin, dass die Buchmesse, weil wir auf der Teilnahme bestanden haben, es ermöglichte, sowohl die Stimme der chinesischen Dissidenten als auch die offizielle Stimme Chinas im selben Raum zu Wort kommen zu lassen. Auch wenn hier keinesfalls Gleichberechtigung herrschte. Als Dichter im Exil wurde mir die Chance verwehrt, auf dem mir ursprünglich von Seiten der Buchmesse zugesagten Platz auf dem Podium über die Rolle der chinesischen Literatur zu sprechen. Und auch die Autorin und Journalistin Dai Qing, die ihr ganzes Leben der kritischen Beobachtung der innerchinesischen Politik und Umweltpolitik gewidmet hat, konnte nicht auf den ihr ursprünglichen zugedachten Platz im Panel „Die Bilder Chinas in den Medien – Chinas Bild von den Medien“ zurückkehren und ihren Vortrag halten. Wir galten nicht als Experten, konnten stattdessen nur aus dem Publikum heraus Fragen stellen und Statements abgeben.
Unterdessen durften wir mit ansehen, wie der ehemalige Botschafter der Volksrepublik China gleich in zwei Panels einen Vortrag hielt. Als wir dann noch mit ansehen mussten, wie am Ende die Diskussion „aus Zeitgründen“ abgebrochen wurde, aber zum allseitigen Erstaunen ein Vertreter der staatlichen chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in einem nicht enden wollenden Schlusswort den Westen zu mehr Verständnis für China ermahnte, konnte man den Eindruck bekommen, dass sich dieses Symposion beinahe gänzlich zu einer Propagandaveranstaltung für die chinesische Erfolgsgeschichte gewandelt hatte. Ein Symposion, das uns den Aufstieg chinesischer Kultur, Politik, Wirtschaft, des chinesischen Wissens inklusive der chinesischen Literatur als staatliche Leistung verkaufen wollte.
Die Stimme eines Schriftstellers kann immer nur für ihn selbst sprechen und nicht für irgendjemand anderen, doch die Stimme der Literatur ist manchmal vielleicht die authentischste, am wenigsten verstellte Stimme, die wir kennen. Warum wurde uns der aufrichtige Dialog mit den aus Peking angereisten Schriftstellern verwehrt? Immerhin taute außerhalb des offiziellen Programms die verordnete Kälte etwas auf, und wir durften wieder Menschen sein: Freundlich ging ich in der Pause auf Mo Yan zu, um mich mit ihm bekannt zu machen, und ebenso freundlich schüttelte er die von mir dargebotene Hand.
Mein größter Respekt gebührt Beethoven
Mo Yan war auch der Einzige, der beim letzten, der Literatur gewidmeten Panel des Symposions, überhaupt über dieses Thema redete. Er erzählte am Ende seines Vortrags, der für Pluralität in der Literatur eintrat, eine Anekdote über Deutschland, die in China jedes Kind kennt: Als Beethoven und Goethe eines Tages zusammen die Straße entlangspazierten, sei ihnen die Kutsche des Königs entgegengekommen. Beethoven habe sich ihr hocherhobenen Haupts und ohne zur Seite zu weichen, entgegengestellt. Goethe aber sei zur Seite gegangen, habe sich verbeugt und respektvoll seinen Hut gezogen.
Mo Yan meinte, als junger Mann habe er mehr Gefallen an Beethovens Haltung gefunden, doch seit er über fünfzig sei, gelte seine ganze Bewunderung dem Verhalten Goethes in dieser Anekdote. Ich meldete mich zu Wort und sagte, dass auch mir diese Anekdote wohl bekannt sei, Mo Yan habe jedoch ein wichtiges Detail dieser Geschichte ausgelassen. Beethoven war nämlich dem Wagen des Königs nicht nur nicht ausgewichen, er hatte auch gesagt: „Es gibt viele Könige auf der Welt, aber nur einen Beethoven.“ Die Kunst, die bleibt, ist nur sich selbst verpflichtet. Auch ich kann zwar mit zunehmendem Alter Goethe besser verstehen, dennoch gebührt mein größter Respekt hier Beethoven.
Im Oktober, wenn China Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird, da bin ich mir sicher, wird die Stimme seiner Literatur in vielen Tonlagen erklingen, denn sie kann sich nicht allein von der Stimme der chinesischen Regierung monopolisieren lassen. Das Wichtigste wird sein, aus dieser Stimmenvielfalt die individuellen, unabhängigen Töne herauszuhören. Und diese Töne werden, selbst wenn sie in manchen Ohren als Missklang ankommen, sich durch die zahlreichen Publikationen von in der Volksrepublik China verbotener Literatur, ebenso wie von verbotenen politischen, geistesgeschichtlichen und historischen Schriften, Gehör verschaffen. Und ganz gewiss werden auch die Stimmen von chinesischen Exilschriftstellern wie mir auf dieser Messe laut und deutlich zu vernehmen sein.
Bei Ling ist Dichter, Essayist und Verleger. 1993 gründete er ein kritisches Literaturmagazin, für dessen illegale Publikation er in China im Jahr 2000 kurzzeitig inhaftiert wurde. 2001 gründete er in den Vereinigten Staaten den unabhängigen chinesischen P.E.N. Seitdem lebt er im politischen Exil in Boston und in Taipeh, wo er im Verlag „Tendenzen“ neben dem Werk chinesischer Exilschriftsteller auch das internationaler Autoren der Moderne herausgibt.
Aus dem Chinesischen übersetzt von Karin Betz.
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