Romeo und Julia in Kabul, Bericht von Anne Jung (medico international)Ein Container voller Scheinwerfer und ein Schminktisch sollen nach Kabul verschifft werden. Um unabhängige Kulturinitiativen zu stärken, unterstützt medico das junge afghanische Theaterensemble Exile. Anne Jung reiste für eine Woche nach Kabul, um die letzten Verabredungen zu treffen. Nicht nur am Theater trifft sie Frauen, die um ihre öffentliche Präsenz kämpfen.
Aus den Provinzstädten von Herat bis Kandahar sind in diesem Sommer die kleinen Ensembles zum zweiten afghanischen Theaterfestival nach Kabul gekommen. Nach einem Vierteljahrhundert wurde erstmals auch wieder Shakespeare gespielt. Die meist jugendlichen Darsteller wurden von Ariane Minouchkine, Direktorin des berühmten französischen Théâtre du Soleil auf ihren großen Tag vorbereitet. Alle erwarteten voll Spannung die Premiere. Der Abend begann rasant. Ein mitreißender Tanz mit traditioneller Musik fesselte das Publikum. Vor Beginn der eigentlichen Vorstellung bewegte alle nur eine Frage: Wird Shakespeares Leidenschaft auf der Bühne sichtbar? Und: Spielt eine Frau die Rolle der Julia und nicht – wie es unter den Taliban bei Frauenrollen Usus war – ein Mann in Frauenkleidung? Das Ensemble griff zu einer List: Geschwister spielten das tragische Liebespaar. Mehr zu wagen wäre riskant für alle Beteiligten gewesen, zu gut erinnern sie sich noch an das vergangene Jahr, als Taliban-Anhänger in Jalalabad die Bühne während einer Theateraufführung stürmten, weil eine Frau auf der Bühne stand. Mehrere Menschen wurden dabei verletzt, einigen wurden sogar die Arme gebrochen. Dass Darstellerinnen noch immer eine Seltenheit auf der Bühne sind, wird auch an der Kabuler Fakultät für Höhere Künste deutlich: Am „Dramatic Art Center“ ist zurzeit eine einzige Frau als Darstellerin eingeschrieben. Zur Premiere von „Romeo und Julia“ saßen die Kabuler Oberschicht und die NGO-Szenerie im Publikum. Meine europäische Sitznachbarin fiel mir auf, weil sie über die Scherze des afghanischen Redners lachte, der den Abend wortreich eröffnet hatte. Später hat Maria mir erzählt, dass sie als Übersetzerin für das Internationale Rote Kreuz im Frauengefängnis arbeitet. Fast alle Frauen würden dort wegen unehelicher Beziehungen sitzen; Liebesverhältnisse, die nicht selten von ihren Ehemännern erfunden wurden, nur um sie loszuwerden. Obwohl Shakespeares Stück über 400 Jahre alt ist, wäre die berühmte Liebesgeschichte in Afghanistan noch immer ein Skandal. Auch die Fehde zwischen den beiden Veroneser Familien erinnert an ethnische wie religiöse Konflikte: Kaum vorstellbar wäre die Liebe zwischen jungen Schiiten und Sunniten. Vielleicht liegt darin ein Grund für die Begeisterung des Publikums. Die Anspannung fällt von den Schauspielern ab, noch auf der Bühne brechen Julia und ihre Mitstreiter in Tränen aus.
„Theater ist der beste Weg zu kommunizieren, egal ob es um Frieden, Demokratie oder Frauenrechte geht“, so der afghanische Dramatiker Aziz Elyas. Dass auf den Krieg und die importierte Demokratie jetzt Theatertruppen folgen sollen, ist für die lokalen Regisseure zwiespältig. Dreißig Jahre Krieg haben viele Traditionen zerstört. Das Theaterfestival sei daher ein fragiles Projekt, bei dem es auch zu Auseinandersetzungen mit ausländischen Regisseuren kam, die als zu dominant empfunden wurden. „Wir müssen unseren persönlichen Weg finden. Wir wollen die verbrannten Bücher in unserer Erinnerung weiterleben lassen und die eigene Kultur wiederentdecken“, sagte der junge Regisseur Salimi vom Kabuler Exile Theatre. Auch Salimis Ensemble hat sich mit einem Stück an dem diesjährigen Festival beteiligt. „In the mirror“ beschäftigt sich mit den letzten Kriegsjahrzehnten. Kinder, aber vor allem Mädchen, kämpfen um ihre Schulbildung – ein Kampf mitunter gegen die eigenen Eltern. Darüber hinaus greift das Stück die noch immer praktizierte Zwangsheirat an. Das Exile Theatre hat noch keine eigene Bühne. „Wir sind ständig auf der Suche nach Auftrittsorten“, erzählte Salimi. „Und nach einem Schlafplatz“, fügte er hinzu. Selbst in den Zeiten, als er bei der UN noch gut verdiente, habe er keine Wohnung gefunden. Als unverheirateter Mann gehört er fast schon zu einer subkulturellen Randgruppe, die nur in Kabul überleben kann. Er schläft in Proberäumen und duscht bei Freunden oder in einem Hotel, das von einem Franzosen betrieben wird. Das soziale Umfeld wird zur selbstgewählten Familie.
Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im richtigen Leben kämpfen die Frauen um ihre Sichtbarkeit. Etwa die Ingenieurin Soraya. Die gut ausgebildete Mitvierzigerin leitet die Nähwerkstatt der medico-Partnerorganisation AABRAR (Afghan Amputee Bicyclists for Rehabilitation and Recreation). Fünf Jahre lang war sie unter den Taliban ins Haus verbannt. „Ich war am Ende kurz davor mich umzubringen“ sagt sie, während sie in aufrechter Haltung hinter ihrem Schreibtisch sitzt. Nur selten huscht dabei ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie beginnt erst aus ihrem Leben zu erzählen, nachdem sie zuvor den protestierenden Direktor von AABRAR, Dr. Baseer, aus dem Raum geschickt hat. „Das ist Diskriminierung gegen Männer“, ereifert sich dieser halbironisch. Während der kommunistischen Besatzung hatte Soraya begonnen, Ingenieurwissenschaften zu studieren. Nach dem Sieg der Taliban musste sie ihr Studium abbrechen. „Erst jetzt konnte ich meinen großen Traum verwirklichen und mein Examen nachholen“, betont sie. Soraya ist unverheiratet, die einzige in ihrer Familie. Neben der Arbeit kümmert sie sich um ihre behinderte Schwester. Kein Mann würde diese Verantwortung mit übernehmen, ergänzt sie achselzuckend.
Die Schicksale der durch Minenunfälle behinderten Frauen bei AABRAR gleichen einander: Nach dem Unfall wurden sie jahrelang von ihren Familienmitgliedern versteckt, einige sahen so selten das Tageslicht, dass sie zusätzlich schwer erkrankten. Passierte der Minenunfall erst nach der Hochzeit, wurden sie von ihren Männern verlassen. Jetzt aber, so Soraya, sei durch die Mitarbeit in der Nähwerkstatt die völlige Mutlosigkeit gewichen. Die Frauen sprechen über ihre Erlebnisse und sind durch ihr Gehalt unabhängiger geworden. Soraya aber will mehr: Zu den Wahlen organisierte sie einen Autotransport der Frauen direkt zum Wahllokal. Ein mutiges Unterfangen, wie die Wahlplakate mit den Konterfeis der Kandidatinnen an den Hauswänden zeigen, deren Augen oftmals ausgekratzt sind.
Auch die Redakteurinnen von Malalai, dem ersten und bislang einzigen Frauenmagazin, sind wahre Pionierinnen: Mit ihren Reportagen und Fotostrecken haben sie sich ihren Platz an den Kiosken erobert. Benannt wurde Malalai nach einer gerühmten Volksheldin, die durch ihren Widerstand gegen die britische Kolonialmacht zur Galionsfigur der afghanischen Frauenbewegung wurde. Die aktuelle Sommerausgabe befasst sich mit der Burka-Debatte. Denn in manchen Gegenden von Kabul ist der Umgang mit der traditionellen Ganzkörperbedeckung – ganz zur Freude von Malalai – schon recht lax; wenn die Frauen als Beifahrerinnen auf einem der vielen Mopeds sitzen, wird sie eher als Sitzkissen verwendet. Viele Frauen, so die aktuelle Ausgabe, würden die Burka nur noch tragen, wenn sie, gezwungen durch die wirtschaftliche Not, im Land betteln gehen. Seit den jüngsten Wahlen sind im Parlament Afghanistans mit 30 Prozent mehr Frauen vertreten als in Großbritannien und den USA. Meine Beobachtungen in den Vierteln von Kabul zeigten mir, dass die ehedem „Unsichtbaren“ längst begonnen haben, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Ein wöchentliches Treffen im Frauenpark gewinnt immer größeren Zuspruch. Der weitläufige Park, im Stadtteil Sharara gelegen, existiert seit Königszeiten. Bis zu 1.500 Frauen kommen regelmäßig hierhin. Mittellose Kriegswitwen arbeiten als Gärtnerinnen, andere treiben Sport. Ein Frauen-Basketballteam gibt es bereits, auch Hockeyspielen ist geplant. Oder Frauen treffen sich einfach, die Burka lässig zurückgeschlagen, flanieren miteinander und genießen dabei die männerfreie Zone.
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