Intersubjektivität und internationale Politik 2005von Oliver Eberl/Benjamin Herborth/René Steenbock
Einleitung
Auf der Suche nach einem Ausgangspunkt für die Klärung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Internationalen Beziehungen und Politischer Theorie stößt man beinahe zwangsläufig auf das Werk von Jürgen Habermas. In beiden Teildisziplinen breit rezipiert, haben seine Arbeiten von der Positivismuskritik über die Handlungs- und Argumentationstheorie bis zur Diskurstheorie des Rechts und der Politik zahlreichen Debatten als Bezugspunkt und Inspirationsquelle gedient. Dabei sind die Rezeptionslinien in den Internationalen Beziehungen einerseits und der Politischen Theorie andererseits bestenfalls parallel, zumeist aber ohne Berührungspunkte verlaufen. Dieser Zustand einer friedlichen Koexistenz bei weitgehender Dialogvermeidung wird allerdings zunehmend als Defizit wahrgenommen. Sofern dieses Bedürfnis nach einer grundbegrifflichen Öffnung eine Reaktion auf das Scheitern der Vorstellung darstellt, dass sich internationale Politik allein als strategische Interaktion territorial voneinander abgegrenzter Nationalstaaten vollzieht, gilt es allerdings für die Internationalen Beziehungen und die Politische Theorie gleichermaßen. Sowohl die Internationalen Beziehungen als auch die Politische Theorie sehen sich mit konzeptionellen Herausforderungen konfrontiert, aus denen heraus ein verstärkter Dialog nicht nur prinzipiell wünschenswert, sondern unmittelbar angebracht erscheint.
Die Konferenz „Intersubjektivität und internationale Politik. Motive aus dem Werk von Jürgen Habermas in Internationalen Beziehungen und Politischer Theorie“ nahm diese Konstellation zum Anlass, anhand der unterschiedlichen Rezeptionslinien nach Berührungspunkten beider Teildisziplinen zu fragen. Dabei kristallisierten sich ein handlungstheoretischer und ein institutionentheoretischer Schwerpunkt heraus.
Der Begriff „Intersubjektivität“ signalisiert, dass mit dem Bemühen um eine Überwindung subjektphilosophischer Positionen eine die verhandelten Themen übergreifende Klammer bezeichnet ist. Auf der handlungstheoretischen Ebene geht es dabei zunächst um den Nachweis, dass sich subjektive Handlungspotenziale erst in und durch intersubjektive Prozesse konstituieren, dass also Lern- oder Sozialisationsprozesse weder auf vorgelagerte subjektive Akteursdispositionen noch auf objektive Umwelteinflüsse reduziert werden können, sondern eben intersubjektiv beschaffen sind. Der Übergang zu stärker institutionentheoretischen Fragestellungen der Politischen Theorie lässt sich dann daran ablesen, dass Habermas allerdings darüber hinaus den Vernunftbegriff selbst auf eine intersubjektivistische Weise verwendet; er erläutert ihn über das voraussetzungslose Nehmen und Geben von Gründen. Dieser spezielle Modus von Intersubjektivität scheint auf in der Herausbildung der Kategorie des kommunikativen Handelns, das jederzeit für Einwände und Problematisierungen offen ist, in der Herausbildung der Diskurstheorie der Moral, schließlich in der Herausbildung einer Theorie deliberativer Politik. Es ist dieser Sinn von Intersubjektivität, an den angeknüpft wird, um politische Phänomene zu identifizieren, die einen noch näher zu bestimmenden vernünftigen Beitrag zu sozialer Koordination und Integration leisten. Die institutionentheoretischen Begriffe aus Faktizität und Geltung lassen sich auf inter-, trans- und supranationale Problemstellungen allerdings nicht ohne weiteres übertragen, denn Demokratie und Deliberation treten in internationalen Kontexten für gewöhnlich auseinander. Es besteht daher die Gefahr, dass die deliberative Qualität von Aushandlungsprozessen nur um den Preis der Absenkung demokratischer Standards erkauft werden kann. Eine Theorie politischer Institutionen, die für derartige Probleme nicht sensibel ist, fiele hinter die in Faktizität und Geltung erreichte Verschränkung von Demokratie und Deliberation zurück. Die rechts- und demokratietheoretische Diskussion jenseits des Nationalstaats geht daher aus guten Gründen vorwiegend induktiv, experimentell und inkrementalistisch vor. Dabei kristallisiert sich allerdings als übergreifende Fragestellung heraus, wie im Rahmen einer „politischen Verfassung der Weltgesellschaft“ (Habermas) inklusive rechtsförmige Entscheidungsverfahren möglich werden können.
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Inhaltsverzeichnis "Zeitschrift für Internationale Beziehungen", Ausgabe 2 / 2005
Christopher Daase Editorial
Aufsätze
Andreas Fischer-Lescano, Philip Liste Völkerrechtspolitik Zu Trennung und Verknüpfung von Politik und Recht der Weltgesellschaft
Martin Höpner Parteien oder Nationen? Die zwei Konfliktlinien der europäischen Finanzmarktintegration
Jochen Walter Politik als System? Systembegriffe und Systemmetaphern in der Politikwissenschaft und in den Internationalen Beziehungen
Literaturbericht
Olivier Minkwitz Demokratien und militärische Effektivität Warum sich Demokratien tendenziell besser schlagen
Frank Schimmelfennig Obsolete Theorie oder obsoletes Referendum?
Tanja A. Börzel Europäische Integrationstheorie - nicht obsolet, aber reformbedürftig
Anne Faber, Wolfgang Wessels Die Verfassungskrise der EU als Krise »der« Integrationstheorie? Plädoyer für eine Neufokussierung der theoretischen Debatte
Thomas König Die Europäische Republik - so nah und wohl doch so fern?
Antje Wiener Umstrittenheit im Integrationsprozess: Widerstand = Scheitern?
Forum Benjamin Herborth Zur Politik der Grenzziehung Eine Replik auf Andreas Behnke
Oliver Flügel, Anna Geis Begrenzte Grenzüberschreitung Eine Replik auf Andreas Behnke
Andreas Behnke »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg« Eine Erwiderung auf meine Kritiker
Tagungsbericht Oliver Eberl, Benjamin Herborth Intersubjektivität und internationale Politik Ein Tagungsbericht
Gunther Hellmann, Frank Sauer Zum Verhältnis Wissenschaft, Gesellschaft und Politik Die neuen (I)nternationalen Beziehungen an der Schnittstelle eines alten Problems. Bericht von der Sektionstagung 2005
Christian Büger, Holger Stritzel New European Security Theory Zur Emergenz eines neuen europäischen Forschungsprogramms
Zeitschrift für Internationale BeziehungenÜber die Zeitschrift: In der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) werden vor allem methodisch reflektierte und theoretisch interessierte Auseinandersetzungen mit Fragestellungen der Internationalen Beziehungen (IB) veröffentlicht. Außerdem informieren in der "ZIB" publizierte Literaturberichte über die Diskussionen in wichtigen Forschungsfeldern der IB. Die "ZIB" bildet inzwischen das führende deutschsprachige Kommunikationsforum für die politikwissenschaftliche Analyse internationaler Politik. Mit ihrem spezifischen Profil in der Verknüpfung von Theorie und Empirie sowie durch herausragende Beiträge genießt sie weithin Beachtung. Detaillierte Informationen, z.B. über den Beirat, das Begutachtungsverfahren, finden Sie hier.
Herausgeber: Herausgegeben im Auftrag der Sektion Internationale Politik der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) von: Christopher Daase (geschäftsführend) Gunther Hellmann, Reinhard Meyers, Harald Müller, Klaus Dieter Wolf und Michael Zürn
Zeitschrift für internationale Beziehungen
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