Rezension von Prof. Dr. Bertram Schefold
"Versuch einer Zwischenbilanz: Die Frankfurter Universität und ihre zwei soziologischen Schulen"
Einblicke in die soziologischen Traditionen auch jenseits der Kritischen Theorie
Während die seit 1932 so benannte Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt dem hundertjährigen Jubiläum ihrer Gründung im Jahr 2014 entgegengeht, denkt man in Fachbereichen und einzelnen Disziplinen darüber nach, was in diesem Saeculum geleistet wurde. Von der Soziologie ist bekannt, dass sie eine besonders bewegte Geschichte durchlief, da sich Frankfurt sogar zweier soziologischer Schulen rühmen kann, die an zwei verschiedenen Fakultäten angesiedelt waren und mit heute noch spürbaren Nachwirkungen seit den späten zwanziger Jahren miteinander rangen. Von den Anfängen der Frankfurter Schule, der Zeit ihres Exils in den Vereinigten Staaten und ihrer Ausstrahlung durch Horkheimer, Adorno und ihre Nachfolger nach der Rückkehr in die Bundesrepublik ist oft berichtet worden; ihre Kritische Theorie beruhte auf einer eigentümlichen Verbindung von Philosophie und Soziologie in Fortführung der Marx‘schen Ideologiekritik, ohne dessen Geschichtsdeterminismus und die politökonomische Fundierung desselben, aber durchaus mit einer auf Systemveränderung gerichteten »negativen Dialektik«. Die Herausgeber dieses Bandes zur Soziologie in Frankfurt – aber nicht alle Autoren – sind überzeugt, dass die historisch in der Nachfolge der Kritischen Theorie stehende, sich erfolgreich profilierende und durch das Exzellenzcluster »Herausbildung normativer Ordnungen« gestärkte »Frankfurter Schule der Politikwissenschaft« mit der Kritischen Theorie keine Berührungspunkte mehr aufweise, da sie »erst durch Habermas' Abwendung von der Soziologie sowie seine spätere Hinwendung zu primär rechts- und moralphilosophischen Fragestellungen möglich geworden« sei.
Der illustre Schülerkreis um Oppenheimer und Mannheim
In dem Band kommt nun die andere soziologische Tradition Frankfurts stärker zum Ausdruck, die mit Franz Oppenheimer, dem Soziologen und Ökonomen sowie Lehrer Ludwig Erhards, auf einem Stiftungslehrstuhl 1919 einsetzt und mit dessen Nachfolger Karl Mannheim, auf dessen Werk sich viele Beiträge beziehen, ihren ersten Höhepunkt erreicht. Mannheim wurde von seinem später berühmten Assistenten Norbert Elias unterstützt, der es besonders verstand, die Studenten an sich zu binden. Um diese beiden versammelte sich eine später illustre Schar von Schülern. Nach dem Nationalsozialismus gab es bedeutende Rückkehrer der älteren Generation wie Gottfried Salomon-Delatour und die Berufung so herausragender jüngerer Gelehrter wie Walter Rüegg, Humanismusforscher, Rektor der Universität in der kritischen Zeit der 1960er Jahre, formell aber Soziologe; wenig später folgten Friedrich Tenbruck und Thomas Luckmann. Der Bericht, der sich dann auch auf die Mitglieder des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften bezieht, setzt sich fort bis in die Gegenwart.
Analytisch hintergründige Aufsätze und Gesprächsaufzeichnungen von verblüffender Offenherzigkeit
Das Buch zerfällt in zwei Hauptteile: Der erste besteht aus Aufsätzen über die Hauptvertreter, verfasst von Mitarbeitern, Studenten, Professoren, die sich den darzustellenden Akteuren und ihren Ideen teils mehr biografisch, teils mehr theoriegeschichtlich nähern. Das Denken Mannheims in Frankfurt wird von mehreren Seiten direkt und indirekt beleuchtet; Stefan Müller-Doohm stellt dem einen dichten Aufsatz über die ältere Kritische Theorie gegenüber. Am anderen Ende des Spektrums wird von den Schicksalen der Assistenten an der Universität in den 1960er Jahren erzählt. Der zweite Teil des Buchs besteht aus »Interviews und autobiographischen Erinnerungen«, die auch verschiedenartig ausfallen. Rüeggs genauem Rechenschaftsbericht, gestützt auf seine vergleichende Kenntnis der europäischen Universitäten, stehen Gesprächsaufzeichnungen gegenüber, deren gelegentliche verblüffende Offenherzigkeit zu Urteilen führt, welche die Betroffenen in Aufsätzen wohl nicht ohne weiteres auszusprechen gewagt hätten und deren historische Einschätzungen als Zeugnisse mündlicher Überlieferung interessant, aber vielleicht nicht immer faktisch völlig korrekt sind. Auch das frühere Verhältnis von Soziologie und Politikwissenschaft wird hier einbezogen. Der Kontrast zwischen der Atmosphäre an der Universität vor, nach und während der Studentenrevolte wird von Iring Fetscher besonders anschaulich dargestellt. Als besonders geglückt empfand ich Ulrich Oevermanns (sekundiert von Tilman Allert) engagierte Selbstdarstellung des eigenen Werdegangs, verbunden mit knappen Skizzen seiner Hauptgedanken und einer reflektierten Auseinandersetzung mit der universitären Entwicklung. Die Hauptergebnisse des Buchs werden von den Herausgebern in ihrer Einleitung zusammengefasst. Ein dokumentarischer Anhang enthält Zeugnisse zu umstrittenen Berufungsverfahren, die historisch wichtige alte Diplomprüfungsordnung für Soziologie des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und eine Chronik zur Geschichte der Soziologie in Frankfurt.
Provozierender Auftakt für eine hoffentlich fruchtbare Diskussion über die Ausformung der soziologischen Schulen
Diese »Zwischenbilanz« regt zu vielem Nachdenken an. Für die große Aufgabe, die konfliktreiche Entstehung und Ausformung der soziologischen Schulen eines Jahrhunderts im historischen Gesamtzusammenhang darzustellen, wurde ein provozierender, hoffentlich in fruchtbare Diskussionen mündender Anfang gemacht. Soziologie in Frankfurt – das wird jedenfalls deutlich – bestand nicht nur aus Kritischer Theorie. Die institutionell, in politischen Orientierungen und in den methodischen Voraussetzungen der Schulen angelegte Rivalität drückte sich je nach der Fragestellung verschieden aus. Ging es um die Kulturindustrie, konnte sich niemand der Faszination Adorno‘scher Formulierungen ganz entziehen. Im Positivismusstreit siegte faktisch die Gegenposition, wenn man die empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung betrachtet.
Wer fragt, was nun herausgekommen sei und was bleiben werde, findet viele Gründe, um sich ein Urteil zu bilden, aber keine vorgegebenen Schlussfolgerungen. Vieles harrt noch der Bewältigung. Die skurrilen Seiten der 68er Bewegung, die von ihr ausgelösten und die sich in ihr verkörpernden Fehlentwicklungen werden benannt. Weniger weit reichen die Versuche, sie zu verstehen und damit auch die entscheidenden Irrtümer aufzudecken. Blass bleibt in fast allen Beiträgen der Bezug zu den Geisteswissenschaften.Für den späten Tenbruck war nach meiner Erinnerung dieser das wesentliche Problem. Bedrohte die Soziologie nicht jede geistige Hervorbringung mit ideologoiekritischer Reduktion auf ein Erkenntnisinteresse? Wo war der Geist geblieben? In der Mannheim-Curtius-Kontroverse neigte Tenbruck zur Position des Letzteren.
Reich ist das Buch durch die Vielzahl der Personen, die darin auftreten. Da ist von Sozialforschung die Rede, die schon vor der Universitätsgründung durch Henriette Fürth durchgeführt wurde, der Mannheim-Kreis erscheint mit einem eigenen Lebensstil (das unentbehrliche Café Laumer im Mittelpunkt), und mit der Vergrößerung der Universität treten immer neue Namen hinzu. Wenn dann über Überfüllung geklagt wird, spiegelt sich doch immer wieder die alte Erfahrung: dass es auf das enge Verhältnis zu guten Studenten ankommt. Diesen eine Orientierung zu geben, wie sich die Soziologie mit ihren Nachbardisziplinen in Frankfurt geradezu schicksalhaft entwickelte, dürfte ein Hauptverdienst dieses für die gesamte Universität wichtigen Buches sein. Im Raum steht für die ganze Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden die Frage, in welchem fachlichen Verbund die Frankfurter Soziologie am besten an ihre bedeutende und vielfältige Vergangenheit anknüpfen soll.
Der Rezensent
Prof. Dr. Bertram Schefold hat seit 1974 die Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Goethe-Universität inne. Der Geschichte des ökonomischen Denkens gilt neben den Spezialgebieten Kapitaltheorie und Umweltökonomie sein besonderes Forschungsinteresse. Schefold ist Herausgeber des Buches »Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in Frankfurt am Main«, mit einem dokumentarischen Anhang und einer Lehrstuhlgeschichte, aus Erinnerungen zusammengestellt zum Universitätsjubiläum 1982, ergänzt und als Buch herausgegeben zum Universitätsjubiläum 1989, erweitert um einen zweiten Teil zur Hundertjahrfeier der Gründung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften 2001.
Felicia Herrschaft und Klaus Lichtblau (Hrsg.) Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz Wiesbaden 2010, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, ISBN: 978-3-531-16399-4, 571 Seiten, 39,95 Euro.
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