Mein Venedig: Über die Brücke ins MehrFEUILLETON Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2008, Nr. 53, S. 40
Wer frühmorgens auf dem Rialtomarkt einkauft, bekommt Szenen geboten, wie
sie Touristen selten sehen / Von Dirk Schümer
Wer lange schläft, verpasst in dieser Stadt das Beste. Morgens um halb acht
ist die unwirkliche Stille, die das autofreie Venedig nachts umgibt, noch
nicht gewichen. Die uralten Steinplatten der Gassen sind feucht überzogen,
der süße Geruch von frischem Weißbrot zieht aus irgendeiner Bäckerei über
die Kanäle, nur vereinzelt hört man Schritte auf den Brücken. Wer einen
Moment innehält, der bemerkt, wie von den Dachfirsten und aus den spärlichen
Bäumen überraschend viele Vögel den Tag vorfrühlingsfroh begrüßen: Spatzen
tschilpen, Amseln und Rotkehlchen wagen eine erste Melodie, Möwen krächzen
Klagelaute, und, naturgemäß, die Tauben gurren in jedem Winkel. Venedig ist
zu jeder Tageszeit spektakulär. Doch der Morgen, wenn die Sonne ihren Weg
über Dächer sucht und mit rötlichem Licht auf Plätze und in Fenster
vordringt und das Wasser der Kanäle urplötzlich erleuchten lässt, ist mir
die liebste Zeit. Denn um halb acht geht es zum Rialtomarkt.
"Was gibt es Neues am Rialto?" Diese Frage hat Shakespeare seinem
Händlerjuden Shylock als Orgelton unterlegt. Vor ein paar hundert Jahren lag
rund um die damals einzige Brücke des Canal Grande ein Welthandelszentrum,
wo Europas wichtigster Markt für Gewürze und Pelze, Schmuck und Glas die
Preise bestimmte, wo beladene Galeeren aus der Levante Händler reich
machten, wo Neuigkeiten von der Seidenstraße den Kontinent erreichten und
schlechte Nachrichten aus Kairo und Byzanz Existenzen ruinierten. Was gibt
es Neues am Rialto? Das ist auch meine Frage zweimal die Woche - jetzt, da
aus der Börse des Mittelalters ein ganz normaler Kleinstadtmarkt geworden
ist.
Ein Markt, auf dem die Händler die Waren mit Lastbooten direkt vom Kai des
Canal Grande zu ihren Ständen bringen: Gemüse von der Anbauinsel
Sant'Erasmo; Meeresfrüchte, die von den Adria-Fischern (oder den Lastwagen
mit Überseeware) nachts zum Großmarkt auf der Tronchetto-Insel geliefert
wurden. Aber auch jede Flasche Wein, jedes Päckchen Pfeffer und jede Salami
ist hierher übers Wasser gekommen. Nur wir kommen zu Fuß.
Morgens um acht, wenn wir die gut sechzig Stufen von der Rialtobrücke
herabkommen, haben die Händler schon ein paar Stunden Arbeit hinter sich.
Noch sind die Touristenbuden voller Masken, Fußballtrikots, Krawatten und
Nippes geschlossen oder nicht aufgebaut. Dafür herrscht Gewusel bei den
Fischständen unter den neogotischen Bögen des "Mercato di Pesce" und
Getümmel an den benachbarten Obst- und Gemüseständen. Venedigs Altstadt hat
zwar nurmehr gut sechzigtausend Einwohner, aber die vielen Touristen, die
versorgt sein wollen, gewährleisten dem Markt ein Angebot, das einer
Großstadt Ehre machen würde. Bevor die wählerischen venezianischen
Hausfrauen, die erst die Kinder in die Schule bringen müssen, alle Fische
und jede Tomate betätschelt haben, konnte Bruno, der im Stadtsechstel
Castello ein Restaurant betreibt, bereits mit knappen Gesten die beste Ware
bestellen: kleine Tintenfische, rare Moechè-Taschenkrebse, superfrische
Doraden aus heimischem Fang. Das alles wird ihm später geliefert.
Die Lastträger, die mit Schubkarren gekühlte Fischkartons und Gemüseladungen
abtransportieren, versetzen einen am Rialto endgültig in eine andere Zeit.
Die rauhen Burschen - nur noch die wenigsten sind Venezianer, viele kommen
aus Moldau - machen sich rufend den Weg frei. Ab und zu sieht man einen
Bäckergehilfen, der nach alter Art Brotkisten auf dem Kopf balanciert. Ein
Blick durchs Marktgeschehen zum Kanal, wo die ersten Kunden aus der
Traghettogondel steigen, in der sie stehend bei der Überfahrt einen Blick
ins Lokalblatt "Gazzettino" geworfen haben - und ich bin immer wieder
verzaubert. Wem bei einem solchen Anblick nicht das Herz höher schlage, hat
Grillparzer einmal über Venedig geschrieben, der sei bereits tot und könne
sich begraben lassen.
Am Rialto hat man das Privileg, inmitten dieser belebenden Szenerie zu
frühstücken. Am Campo della Bella Vienna gibt es morgens um acht Panini,
Croissants und starken Espresso für den ersten Imbiss; manche Marktleute
sind bereits bei der "Ombra", einem Weinchen im Stehen, angelangt. Das
Frühstück all'italiana dauert so nur ein paar Minuten, aber es ist immer
schon Zeit für ein Schwätzchen über die Fußballergebnisse von gestern Abend,
über die Kapriolen der italienischen Politik oder übers Wetter.
Dass man leicht Bekannte trifft, weil sich niemand hinter der
Windschutzscheibe oder in der Straßenbahn verstecken kann, gilt für ganz
Venedig. Doch nirgendwo ist der Plausch auf der Straße schöner und
angeregter als beim morgendlichen Marktgang. Grüßend und lachend, versichern
sich die Venezianer, in ihrer Stadt noch heimisch zu sein - trotz der
Massen, die ein paar Stunden später die Gassen um Rialto zustellen werden.
Im Morgenlicht des Marktes jedoch stellt man sich noch gegenseitig zur
Schau - sogar notgedrungen wie die nervösen Klienten, die aufgedonnerten
Sekretärinnen und die eitlen Advokaten, die direkt am Gerichtsgebäude für
einen frühen Prozess die Taktik beraten. Zuweilen zieht ein Trupp
Justizpolizisten mit Delinquenten vorbei, die man für diesen schweren Gang
an Händen und Füßen zusammengekettet hat. Mittelalter? Oder Zukunftsvision?
Fast hätten wir über all den Bildern vergessen, dass wir einkaufen müssen.
Dazu haben wir - es sind vom fernen Castello gut zwanzig Minuten Fußmarsch
über sieben Brücken - praktische Rollwägelchen dabei, die man auf dem Hinweg
zusammengefaltet als Tasche trägt. Zuerst kommen die schweren,
unempfindlichen Produkte: Sojajoghurt und Holzofenbrot aus dem Bioladen,
Gewürze, Pinienkerne, Marmelade und Wein vom Feinkosthändler Mascari. Es ist
ein traditioneller Familienbetrieb mitten im Touristentrubel, der draußen
tagsüber vorbeiwogt: Papa beobachtet den Laden, Söhne und Töchter bedienen,
die Mamma, die resolut die Arbeit einteilt, steht an der Kasse und klagt
über den Krach aus den neuen Bars, deren laute Kunden allen Anwohnern am
Rialto nachts bis drei den Schlaf rauben. "Und morgens früh kommt schon
wieder die Müllabfuhr und klimpert mit dem Glas. Früher war es immer so
ruhig hier." Nun hat man eine Bürgerinitiative gegen den Lärm gebildet. Aber
ob die bei der Stadtverwaltung Gehör findet?
Die Königsdisziplin ist wie überall der Einkauf der Frischwaren. Die Auswahl
an italienischem Käse ist - offen gesagt - in Venedig recht mau, man hat
Glück, wenn an den wenigen Spezialständen ein frischer Büffelmozzarella, ein
milder Asiagokäse aus den Bergen hinter Vicenza oder gar der edelfaule
Bagöss vom entlegenen Alpensee Lago d'Idro aufzutreiben ist. Dafür gibt es
Grünzeug im Überfluss. Unser Lieblingsstand gehört den Santins, etwas
abseits von der Konkurrenz bietet er schon frühmorgens den vorsortierten
Feinschmeckersalat mit Blumenknospen und frischen Wildkräutern und die
Frischware aus Sant'Erasmo und der näheren Umgebung: winzige Artischocken,
Tomaten, Hopfensprossen, Radicchio - alles je nach Jahreszeit. "Sogar die
Bananen ziehen wir selbst", pflegt der Chef seine Ware anzupreisen.
Nun zum Fisch, dessen Stände um diese Tageszeit noch nicht geplündert sind.
Im Sommer haben wir Kühltüten für den Rückweg dabei, jetzt reicht es, wenn
ein Kalfaktor die auf Eis ausgelegte Ware mit der Gießkanne wässert. Man
kauft nicht nach Appetit, sondern nach Marktlage. Und man kauft nicht bei
jedem. Die Wahl des Fischhändlers gehört zu den Geheimwissenschaften unter
Venezianern. Einige Stände bieten Qualität, aber keine große Auswahl.
Woanders ist es überteuert, aber erlesen. Und wo man Schnäppchen machen
kann, muss man bei Muscheln und Krabben aufpassen, sonst gibt's in der Küche
eine böse Überraschung.
Nach jahrelanger Sucherei und diversen Wechseln schwören wir auf einen
großen Händler fast direkt am Canal Grande. Bei ihm gibt es hervorragenden
Fisch in großer Auswahl zu moderaten Preisen; hier feilschen und kaufen die
kritischsten Hausfrauen, und der Händler greift schon mal ein, wenn man
beinahe den falschen Fisch ausgewählt hätte. Dann lenkt er die
Aufmerksamkeit dezent auf noch etwas bessere Ware oder kommt von irgendwo
mit einem Prachtexemplar mit leuchtenden Augen (gemeint ist der Fisch) um
die Ecke, das er gekonnt an den Kiemen festhält: "Der hat noch gelebt, als
ihr heute Nacht geschlafen habt."
So kann dann - es ist kurz vor neun - der Tag mit besten Aussichten auf ein
Abendessen voll Wohlgeschmack seinen Lauf nehmen. Die Rollwagen, die wir
noch über gut hundertfünfzig Stufen bis nach Hause wuchten müssen, sind
voll. Die urvenezianische Rollenverteilung bewährt sich: Der Mann schleppt
die schwersten Sachen, die erleichterte Gemahlin kann sich schon mal
Gedanken machen über Garzeiten und Gewürze.
Was gab's Neues am Rialto? Eigentlich nichts, das ist ja gerade das Schöne.
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